Gastbeitrag | Neues denken für neue Lebensmittel

Teile diesen Beitrag

Gastbeitrag | Neues denken für neue Lebensmittel

Wurde Biertreber bisher als Abfallprodukt betrachtet, so fertigen findige Brauereien heute Pizza oder Kekse daraus. Mehr der wertvollen Stoffe, die beim Brauvorgang entstehen, werden verwendet und Abfall vermieden. Damit aus Nebenprodukten Hauptprodukte werden, braucht es ganz neue Strategien für die kreislauffähige Lebensmittelproduktion – zum Schutz unseres Planeten.

Beim Feierabendbier in geselliger Runde denkt kaum jemand an die Rückstände des Braumalzes, Biertreber genannt. Trotz seiner wertvollen Bestandteile wurde aus diesem Nebenprodukt, das beim Bierbrauen entsteht, bisher bestenfalls Biogas oder Tierfutter erzeugt. Zunehmend findet jedoch ein Upcycling statt. Um die im Biertreber enthaltenen ernährungsphysiologisch wertvollen Komponenten wie Ballaststoffe, Proteine und Mineralien zu nutzen, wird er auch zur Herstellung von Brot, Pasta, Keksen und Riegeln verwendet.

Vom einstigen Abfallprodukt …

Bislang galt die Verarbeitung dieser sogenannten Nebenströme zu Lebensmitteln häufig als uninteressant. Die Gründe: zu energieintensiv und kostspielig. Denn diese Nebenprodukte müssen oftmals thermisch haltbar gemacht oder anderweitig aufbereitet werden, bevor sie zu Lebensmitteln weiterverarbeitet werden können.

… zum wertvollen Lebensmittel

Wie beim Biertreber braucht es deshalb völlig neue Strategien, um vermeintlich minderwertige Nebenprodukte direkt zu wertvollen Hauptprodukten werden zu lassen, damit die Menschheit ernährt und die Umwelt geschont werden kann. Es bräuchte effektive, sich regenerierende und selbsterhaltende Kreislaufsysteme.

Vorbilder hierfür liefert die Natur: In einem lebenden biologischen System existiert ein kontinuierlicher Stoffaustausch, welcher Wachstum, Beanspruchung, Zerfall oder Regeneration, Anpassung und Entwicklung ermöglicht. Ein zirkulärer Stoffaustausch ermöglicht es, Moleküle und Komponenten zu regenerieren, wodurch das gesamte System erhalten werden kann. Kennzeichen regenerativer Systeme ist, dass sie sich als Subsysteme in andere Systeme einbetten.

Vorbild Natur

Am Ökosystem «Wald» lässt sich das besonders gut veranschaulichen: Bäume nehmen Kohlendioxid aus der Luft auf und geben Sauerstoff ab, während sie gleichzeitig dem Boden Wasser und Nährstoffe entziehen. Der Prozess der Photosynthese ermöglicht es den Bäumen, zu wachsen, sich zu regenerieren, anzupassen und zu entwickeln. Der Sauerstoff, der bei der Photosynthese entsteht, ermöglicht es anderen Lebewesen zu existieren. Die Blätter und Äste, die absterben und herabfallen, liefern dem Boden organisches Material, das als Nahrungsquelle für Mikroorganismen und Insekten dient. Diese Organismen wiederum zersetzen die organische Substanz und geben Nährstoffe an den Boden ab, die von den Bäumen und anderen Pflanzen aufgenommen werden können. Letztlich entsteht ein zirkulärer Stoffaustausch zwischen den Bäumen, dem Boden, den Mikroorganismen und der Luft, der die Aufrechterhaltung des gesamten Ökosystems ermöglicht. Das Ökosystem «Wald» ist wiederum Teilsystem des grösseren Systems Biosphäre der Erde.

Zirkulär und enkeltauglich

Wie diese biologischen Systeme sollte auch eine regenerative Lebensmittelproduktion funktionieren: Am Anfang steht die nachhaltige agrarische Urproduktion von Rohstoffen. Die Verarbeitung und die Wertschöpfung aus allen Strömen erfolgt mit dem Fokus auf der direkten Verwertung für die menschliche Ernährung, auf der Verhinderung von Lebensmittelabfällen sowie auf der Verminderung des Verbrauchs von Energie und anderen Ressourcen – die selbstverständlich aus regenerativen Quellen stammen sollten. Die Geschäftsmodelle sollten langfristig orientiert, zirkulär und damit enkeltauglich sein.

Konkret könnte das so aussehen: Regenerative Prozesse in der Landwirtschaft fördern durch verschiedene Freilandkulturmassnahmen wie beispielsweise die Fruchtfolge auf den Produktionsflächen aktiv das Mikrobiom im Boden. Das Bodenleben wiederum ist für die Steigerung des gesunden Ertrags und der Biodiversität entscheidend.

Zellkulturen gegen Fehlproduktionen

Denkbar wären hier auch Zellkulturen, die ganz gezielt für die Herstellung von Nahrungsmitteln eingesetzt werden könnten. Die Zellen für die Vermehrung werden aus dem Ursprungsgewebe der Pflanzen – beispielsweise der Kakaobohne – entnommen und ohne genetische Veränderung in eine Stammkultur übergeführt. Danach findet die Vermehrung der Kulturen in einem speziellen Tank statt, in dem man die Umweltbedingungen beeinflussen kann: Temperatur, Gashaushalt, mechanische Bewegung, Licht und andere Faktoren können in diesem System genau überwacht und gesteuert werden. Die Nährstoffquellen dieser Kulturen stammen aus der hiesigen Landwirtschaft. Der Herstellungsprozess ist deutlich besser kontrollierbar als in Systemen, bei denen Pestizid- und Düngereinsatz die Regel und Wettereinflüsse unberechenbar sind.

Auf diese Weise kann mehr vom Guten aus der Pflanze für die Humanernährung bereitgestellt werden, und dies bei Verminderung des Ressourcenverbrauchs. Fehlproduktionen, verbunden mit Foodwaste, sowie Nebenströme bleiben die Ausnahme – alle Ströme werden zu Hauptströmen. Zudem könnten die Zellen nahe dem Ort der Veredelung kultiviert werden.

Aus Rivalen werden Partner

Letztlich bedarf es bei einer regenerativen Lebensmittelherstellung auch neuer Geschäftsmodelle und Kooperationen. Aus einstigen Rivalen könnten Partnerinnen an einem gemeinsamen Produktionsstandort werden. Einer der Unternehmenspartner würde dann beispielsweise den flüssigen Hauptstrom zu pflanzenbasierten Drinks verwerten und die andere Geschäftspartnerin den festen Hauptstrom in pflanzenbasierte Fleischalternativen oder Back- und Teigwaren verarbeiten.

Zum Feierabendbier in geselliger Runde ist dann die Brauerei-Pizza mit gesunden Inhaltsstoffen aus dem Biertreber zu haben. Regenerative Lebensmittelproduktion steht auch für Genuss mit gutem Gewissen.

Link zum Originalartikel

Zu den Schreibenden

Das Unerwartete denken und schreiben ist das Motto von Gisela und Tilo Hühn. Gemeinsam verantwortungsvoll handeln, reflektieren und etwas bewirken sind die Eckpfeiler ihres Lebenskonzepts. Die beiden arbeiten als Forschende und Dozierende an der ZHAW: Gisela Hühn in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Prozessentwicklung, Tilo Hühn als Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -prozessdesign. Ob an der Hochschule oder am Küchentisch: Beide diskutieren und arbeiten gerne – zu zweit oder mit anderen – zu zukünftigen Ernährungssystemen sowie zu der Frage, wie man bei der Verarbeitung mehr vom Guten aus Agrarprodukten erhält.

Tilo Hühn
Tilo Hühn
ZHAW

Teile diesen Beitrag

Welche Gedanken hast du dazu?

null null
Hier ist Platz für deine Gedanken dazu